Nach 1945 begann für den Westen Europas ein „Silbernes Zeitalter“. Die Schrecken des Ersten und Zweiten Weltkriegs, der beiden fürchterlichsten und tödlichsten Kriege, die die Welt je gesehen hatte, waren zu Ende. Durch den Willen und den Fleiß vieler Millionen Menschen, sowie durch die Unterstützung der USA erschufen die Länder nach der Katastrophe über Jahrzehnte hinweg wachsenden Wohlstand in Frieden und Freiheit. Es gab nur noch „aufwärts“ und „vorwärts“. Getrübt wurde diese Zeit durch den Kalten Krieg zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion – die Gefahr eines Atomkrieges schwebte ständig über allem, obwohl man das im Alltag meist ignorieren konnte. Dann kam 1990, und das Undenkbare geschah: die Sowjetunion und damit der von ihr geführte und beherrschte Ostblock zerfielen. Der Kalte Krieg war tatsächlich einfach zu Ende. So trat Europa – nun auch der Reihe nach die Länder im Osten – endgültig in ein Goldenes Zeitalter ein. 30 Jahre lang wurde Europa jetzt vom Höhepunkt des Wohlstands verwöhnt. Es schien, als könnte es ewig so weitergehen.
Die ersten Anzeichen, dass dem nicht so ist, kamen langsam
zum Vorschein. Der Klimawandel – doch bedrohlicher als wir dachten?
Reichsbürger, Verschwörungsideologen, Politikverdrossene – immer mehr Zulauf
für diese Gruppen. Armut inmitten des Wohlstands – das gibt es also wirklich?
Und Terroranschläge mitten in Europa – wie kann das nur sein?
Tatsächlich war der Zustand schon zwischen 1945 und 1990
labiler als man es sich im „Westen“ bewusst machte: Die Länder im Osten Europas
standen unter der harten Kontrolle der Sowjetunion. Der Kalte Krieg war nicht
überall kalt: Korea, Vietnam, Afghanistan, Äthiopien – in vielen Ländern
führten die Supermächte ihre Stellvertreterkriege. Die Hilfe der USA beim Wiederaufbau
Europas war nicht uneigennützig – die Macht der Sowjetunion sollte begrenzt
werden. Der Kolonialismus und die damit verbundene Ausbeutung ärmerer Länder
bestanden unter dem Deckmantel freier Marktwirtschaft weiter fort. Und schließlich:
die Zerstörung der Natur und die Beeinflussung des Klimas durch das ständige
Streben nach Wachstum fanden zu einem bedeutenden Teil in dieser Zeit statt,
ohne wirklich beachtet zu werden.
Ab 1990 wurden entscheidende Fehler gemacht: im Westen
freute man sich nicht nur über das Ende des Kalten Krieges, sondern man hatte
das Gefühl, ihn gewonnen zu haben. Die NATO, das gegen die Sowjetunion
gegründete Militärbündnis, wurde nicht aufgelöst, sondern sogar erweitert. Damit
wurde die Chance auf echten, dauerhaften Frieden zwischen Europa und Russland
vertan. Ebenso hielt man die Marktwirtschaft für den glorreichen Sieger der
Wirtschaftssysteme, ohne deren negative Folgen ausreichend zu bedenken: das
zwangsläufige Entstehen wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit durch das in
freier Wirtschaft herrschende Recht des Stärkeren, und die verheerenden Schäden
am Ökosystem Erde. Letzteres schaffte es zwar immer mehr ins öffentliche
Bewusstsein, effektive Gegenmaßnahmen gab es aber nur in kleinem Ausmaß und
sehr zögerlich. Dazu kam, dass dieses Zeitalter nicht überall auf der Welt
golden war. Beispielsweise in Russland, Arabien und Afrika lebten die Menschen
unter ganz anderen Umständen und bekamen nur die Krümel vom reichen Tisch Europas
und Nordamerikas ab.
Damit nicht genug. Wenn Menschen über längere Zeit in
Wohlstand und Sicherheit leben, dann tritt ein Zustand ein, den ich Wohlstandsdekadenz
nenne. Die Menschen verlieren wichtige Überlebensfähigkeiten, sie beschäftigen
sich immer mehr mit unnützen Dingen und erschaffen sich künstliche Werte.
Dadurch wird die Gesellschaft anfällig für Krisen jeder Art.
Und diese Krisen kamen. 2020 breitete sich der neue Virus
SARS-CoV-2, gemeinhin Coronavirus genannt, über die Erde aus, nutzte dabei die
globalisierten und vernetzten Strukturen zu effektiver Verbreitung und stellte die
verwöhnten Menschen vor eine große Herausforderung, die in Europa unter anderem
die bereits bestehende gesellschaftliche Spaltung verstärkte. Immer deutlicher
wurde auch, dass Russland das weitere Absinken in der Machtrangliste der Staaten
nicht länger tolerieren wollte. Hier war durch den vorhin beschriebenen NATO-Fehler
mit Vladimir Putin ein Herrscher an die Macht gekommen, der über viele Jahre
hinweg plante, wie Russland im Vergleich zum Westen wieder erstarken kann. Der
Hauptschauplatz für die Machtspiele wurde die Ukraine, die ehemals zum
Machtbereich Russlands gehörte. Als im Herbst 2021 die deutsche Bundeskanzlerin
Angela Merkel ihre Amtszeit beendete, sah Putin die Chance zum nächsten Schritt
gekommen – der Kalte Krieg erwachte aufs Neue. Der politische Kurs von Frau
Merkel über viele Jahre hinweg war auch sonst ein wichtiger Faktor für Europas
Goldenes Zeitalter – und für dessen Niedergang. Sie sorgte für Stabilität und
Kontinuität, gleichzeitig war ihre Methode, mit Konflikten und Problemen
umzugehen, oft das Totschweigen und Aussitzen.
An dieser Stelle stehen wir jetzt. Wir erleben eine Zeit des
Umbruchs, das Goldene Zeitalter ist zu Ende. Zu lange wurden Probleme ignoriert.
Zu lange herrschte Konzentration auf Erhalt von Wohlstand und
Wirtschaftswachstum, ohne einen Plan dafür zu haben, wie es danach weitergehen
könnte.
Und wie wird es nun weitergehen? Das wird sich sehr bald zeigen.
Wird der neue Kalte Krieg zu einem neuen großen Krieg in Europa? Vielleicht
sogar zum finalen Schlagabtausch zwischen den USA und Russland, der vor 1990
über Jahrzehnte hinweg ausblieb? Die Folgen des Klimawandels und der Naturzerstörung
werden auch Europa hart treffen. Wie hart, das ist davon abhängig, wie schnell
und wie weitreichend Gegenmaßnahmen getroffen werden. Bisher lässt sich das notwendige
Ausmaß des Handelns hier immer noch nicht erkennen. Wann kommt die nächste
Pandemie? COVID-19 war im Vergleich zu dem, was uns treffen könnte, relativ
harmlos. Wird man Lehren draus ziehen, dass wir mit unserer Art zu leben Viren
ein Ausbreitungsparadies bieten? Und wie wird sich die gesellschaftliche
Spaltung nach Corona weiter entwickeln? Verschwindet sie wieder, oder wird sie
zur neuen Normalität? Wir dürfen nun nicht einfach abwarten, was kommt. Wir
müssen handeln, auf allen Ebenen, jeder von uns. Das neue Zeitalter ist da. Was
darüber später in den Geschichtsbüchern steht, das bestimmen unsere
Entscheidungen.